Vinyasa. Ein weiteres gängiges Wort in der Yoga-Szene, dass so klar und doch so unklar ist. So findet man es einerseits als Bezeichnung für spezielle Klassen, andererseits wird der eifrige Yogi auch in Klassen, die ganz andere Namen tragen, oft aufgefordert „durch ein Vinyasa zu fließen“.
Da kann durchaus eine gewisse Verwirrung entstehen.

Was bedeutet dieses „Vinyasa“ nun?
Ist es ein eigener Yoga-Stil? Oder schlicht der Übergang von Chaturanga zu Adho Mukha Svanasana? Oder gar ganz etwas anderes?

Nun, ganz allgemein kann Vinyasa meinen

  1. eine bestimmte Art von Yoga,
  2. eine bestimmte Sequenz von Bewegungen, die als Übergang von einer Asana – bzw. einer Reihenfolge von Asanas – in die nächste dient,
  3. die Verbindung zwischen Körperbewegung und Atem,
  4. das Finden einer Intention für die Yoga-Praxis, und die notwendigen Schritte einzuleiten, um diese zu integrieren bzw. dieses Ziel zu erreichen.

Aber mal langsam… lasst uns hier mal Schritt für Schritt vorgehen…

Das Wort „Vinyasa“

Es ist wahrscheinlich keine große Überraschung, aber das Wort „Vinyasa“ kommt aus dem Sanskrit und hat eine Vielzahl an Bedeutungen (wie wir ja bereits festgestellt haben).
So kann Vinyasa bspw. als eine „Veränderung innerhalb eines vorgeschriebenen Rahmens“ interpretiert werden, oder auch als ein „Aufeinanderfolgen von Bewusstheit“.

Aber wie dem auch sei, das Wort selber setzt sich zusammen aus den Silben „vi“ und „nyasa“.
Wobei „vi“ mit „auf eine bestimmte Art“ übersetzt werden kann, und „nyasa“ so viel wie „legen, setzen, stellen“ bedeutet.
Eine der gängigsten Übersetzungen von „Vinyasa“ ist daher „auf eine bestimmte Art platzieren“.

Was wird platziert

So weit so gut… Ist es dann auch ein Vinyasa, wenn ich ein Buch auf eine bestimmte Art und Weise in ein Regal stelle? Es sozusagen dort „platziere“?

Nun ja, wie so oft ist die Antwort auf diese Frage wahrscheinlich erstmal reine Interpretation. Aber ja, wenn man so will… philosophisch betrachtet: JA.

In der Yoga-Philosophie sind „Vinyasa“, oder „Vinyasa Krama“, nämlich Begriffe, die schon im vedischen Zeitalter beschrieben wurden.
Dort ist „Vinyasa“ als Sinnbild für die Vergänglichkeit, die in der Natur aller Dinge liegt zu verstehen, und „Vinyasa-Krama“, als ein Ablauf oder eine Abfolge von Schritten, die gemacht werden, um etwas „heilig“ zu machen.

Insofern, kann durchaus der simple Akt des „ein Buch in ein Regal Stellens“, zu einem Vinyasa werden. Vergänglichkeit ist schließlich auch diesem Akt inhärent, und wenn ich diese Handlung noch mit voller Bewusstheit und ausschließlich ausführe, wird sie doch auch irgendwie zu etwas „heiligem“.

Nichtsdestotrotz, der Begriff Vinyasa, wie er heute üblicherweise im Yoga verwendet wird, bezeichnet grob gesagt meistens eine bestimmte, oder auch mehrere verschiedene Bewegungsabfolge(n), und geht ursprünglich zurück auf T. Krishnamacharya, dem Vater des modernen Yoga.
Er war es, der das System Yoga neu entwickelt, und quasi das Angebot an Asanas erweitert hat.
Er war es auch, der versuchte Yoga an den jeweils Praktizierenden anzupassen.

Seit Krishnamacharya haben wir also eine Yoga-Praxis, in der wir einerseits eine große Anzahl an verschiedenen Haltungen zur Verfügung haben, und die andererseits darauf basiert, „Schritt für Schritt“, also auf eine geeignete Art und Weise, von einer in die nächste Position zu wechseln und dabei sozusagen den Körper immer wieder neu, und auf eine „bestimmte Art zu platzieren“.

Vinyasa Flow / Power Vinyasa / Ashtanga Vinyasa …

Dieser Wechsel zwischen verschiedenen Asanas passiert aber doch irgendwie in so gut wie jeder Yoga-Stunde.
Es ist nicht unüblich, dass der aufmerksame Yogi sich zu fragen beginnt: „Sind dann alle Klassen eigentlich ‚Vinyasa Klassen‘?“ bzw. „Was erwartet mich in einer ‚Vinyasa-Stunde‘?“ und „Was ist der Unterschied zwischen den verschiedenen ‚Vinyasa-Formen‘?“.

Meiner Meinung nach sind die Grenzen hier sehr fließend, und daher wiederum vor allem eines: eine Frage der Interpretation eines jeden einzelnen (Lehrers).

Allgemein gesprochen ist die große Besonderheit von Vinyasa Klassen allerdings sicherlich, dass die Stundenbilder diverse Positionen beinhalten, und jedesmal anders sind.
Das heißt also Vinyasa Klassen sind immer wieder neu, können eine Peak Pose aufweisen, eine bestimmte Kategorie an Positionen als Schwerpunkt haben, oder auch einem beliebigem  (philosophischen) Thema gewidmet sein.
Je nachdem wie dann in einer Klasse das Tempo und der Schwierigkeitsgrad der Haltungen gehandhabt wird, bzw., was das Ziel der Stunde darstellt, gibt es dann zum „Vinyasa“ noch den einen oder anderen Zusatz bei der Bezeichnung.

Im Gegensatz dazu sind bspw. im Bikram oder Ashtanga Yoga, die Übungsabfolgen fix und immer gleich.

HAH (!) denkt sich hier der aufmerksame Leser… Was ist dann Ashtanga Vinyasa?

Nun ja, … erstmal: gute Frage… 😉
Was Ashtanga und Vinyasa Yoga gemeinsam haben sind deren Wurzeln. Beide sind auf T. Krishnamacharya zurückzuführen (den hatten wir ja schon).
Der Begründer des Ashtanga Yoga, Pattabhi Jois, war nämlich ein direkter Schüler von Krishnamacharya und somit wohl vertraut mit dessen Art des Unterrichtens. Teil dieses Unterrichts waren Sonnengrüße, Surya Namaskara A+B. Diese übernahm Pattabhi Jois als er sein System entwickelte, somit teilen Vinyasa und Ashtanga in gewisser Weise die gleiche Geschichte und zuminest teilweise ähnliche Sequenzen, und kann dies als eine mögliche Erklärung für die Bezeichnung „Ashtanga Vinyasa“ genommen werden.

Weitere Kennzeichen von Vinyasa Klassen

  • Wie bereits erwähnt, die große Freiheit, die LehrerInnen bei der Erstellung eines Stundenbildes für eine „Vinyasa-Klasse“ haben, ist sicher DIE große Besonderheit von eben diesen Klassen.
  • Weiters werden jeweils mehrere Positionen miteinander verbunden, und von einer in die nächste, in Verbindung mit dem Atem gewechselt. Die Übergänge zwischen den Haltungen werden dadurch integraler Bestandteil der Sequenz.
  • Oft wird die Sequenz von Musik begleitet, was in traditionelleren Yoga-Stilen nicht der Fall ist.
  • Im Unterschied zu bspw. Yin Yoga, in dem es primär um das Verweilen in den Asanas geht, ist auch „Bewegung“ ein Stichwort, das Vinyasa kennzeichnet. Das heißt nicht, dass nicht auch in Vinyasa-Klassen Positionen für einige Atemzüge gehalten werden können! Dennoch, im Vordergrund steht die Bewegung.
  • Je nach LehrerIn mag der Zugang zu Vinyasa unterschiedlich sein. Oft wird Vinyasa mit Schnelligkeit und Schwitzen in Verbindung gebracht, doch ist dies lediglich EIN Zugang.
    Vinyasa Klassen können durchaus auch langsam und sehr achtsam sein. Diese verschiedenen Zugänge, langsam/schnell, kraftvoll/sanft, etc., stellen, eine weitere Qualität von Vinyasa dar, da man es dementsprechend immer an die jeweiligen Schüler bzw. gerade vorherrschenden Bedürfnisse anpassen kann.

Chaturanga Vinyasa

Wie wir bereits wissen ist Vinyasa als Bezeichnung für einen Yoga-Stil, nur eine mögliche Verwendung des Begriffs.
Was meint nun weiters der/die YogalehrerIn wenn er/sie auffordert durch ein „Vinyasa zu fließen“?

Meist ist damit ein so genanntes „Chaturanga Vinyasa“ gemeint.
Also eine kurze Sequenz (Reihenfolge bestimmter Positionen) von Phalakasana (Planke) Chaturanga (Liegestütz) Urdhva Mukha Svanasasan (hinaufschauender Hund) → Adho Mukha Svanasana (hinabschauender Hund).
Dies ist die klassische Variante (siehe Bild; mit ein bisschen Fantasie erkennt man hoffentlich was gemeint ist :-P).

Aber die Freiheit die LehrerInnen im Vinyasa-Yoga genießen, haben sie auch bei diesem Vinyasa. Dh. dieser Übergang kann durchaus variiert werden.
Angepasst an den Schwerpunkt der Klasse oder das Level der SchülerInnen kann so zum Beispiel

  • Chaturanga durch eine halbe Variante (mit den Knien am Boden) ersetzt werden, sowie der hinaufschauende Hund durch eine Kobra. Besonders für AnfängerInnen oder TeilnehmerInnen, denen die Kraft für Chaturanga noch fehlt, kann dies eine wertvolle Option sein.
  • die Übungsabfolge auch mit Plankenstellung Knie-Brust-Kinn Kobra Vierfüßlerstand hinabschauender Hund ausgeführt werden. Dies kann bspw. als Vorbereitung für eine Klasse mit Rückbeugen als Schwerpunkt dienen.
  • Plankenstellung Plankenstellung auf den Unterarmen Sphinx Kobra Planke hinabschauender Hund, als weitere Option, wenn bspw. die Bauchmuskeln und Schultern aufgewärmt und gestärkt werden sollen.
  • etc… der Kreativität sind hier keine Grenzen gesetzt 😉

Viele Möglichkeiten, viele Gemeinsamkeiten

So verschieden diese Vinyasa’s (Chaturanga Vinyasa sowie Abwandlungen davon) auch wirken mögen, so haben sie doch vor allem drei Dinge gemein:

1, In den meisten Fällen setzt sich der Übergang zusammen aus einer

  • die Schultern und Rumpfmuskulatur kräftigende Asana, die den Yogi zuerst absenkt (Chaturanga, Knie-Brust-Kinn, o.ä.), gefolgt von
  • einer mehr oder weniger intensiven Rückbeuge (Kobra, hinaufschauender Hund, o.ä.),
  • hin zu Adho Mukha Svanasana (dem hinabschauenden Hund).

Es gilt also (meist): armgestützt zu Rückbeuge zu Inversion.

2, Die Übungsabfolge wird üblicherweise nach einer Sequenz (Reihenfolge bestimmter Asanas), also beim Wechsel von einer Seite auf die andere, durchgeführt; sowie natürlich in den Sonnengrüßen.

3, Wie auch immer das entsprechende Vinyasa zusammengestellt ist… und das ist ein wichtiger Punkt (!!!): Die Bewegungen werden fließend, in Verbindung mit dem Atem ausgeführt!
Dabei gilt es die Bewegung dem Atem anzupassen, und nicht umgekehrt.
Speziell in der klassischen Variante des Chaturanga Vinyasa’s ist die Versuchung groß, durch selbiges zu „rasen“, da es sich tatsächlich um einen sehr kraftvollen Übergang handelt.
Doch das Ziel ist nicht, der erste zu sein, der im hinabschauenden Hund ankommt 😉, sondern viel mehr den Atem ruhig und gleichmäßig fließen zu lassen, und dementsprechend auch die Bewegungen.*
Dabei ist das Absenken von der Plankenstellung in Chaturanga eine Ausatmung, das Hochstützen in den hinaufschauenden Hund eine Einatmung, das nach hinten schieben in den hinabschauenden Hund wiederum eine Ausatmung.
Wird diese Abfolge tatsächlich in Verbindung mit dem (langsamen) Atem durchgeführt, benötigt man viel Kraft und Integration; eben diese Qualitäten werden dabei allerdings auch aufgebaut.

Und im Zweifelsfall oder falls notwendig, kann dieses Vinyasa ja adaptiert werden ;-)

Detail am Rande:
Auch im Ashtanga Yoga werden Chaturanga Vinyasa praktiziert, und zwar selbst in den Sitzhaltungen, gegen Ende der Sequenz noch. Üblicherweise bevor die gleiche Haltung (bspw. Janu Sirsasana) auf der anderen Seite durchgeführt wird… wobei so mancher Ashtangi dies etwas anders beschreiben würde und die verschiedenen Positionen lediglich als Übergang (oder Pause) zwischen den Vinyasa‘s versteht.
Nichtsdestotrotz, werden im Ashtanga Yoga (1. Serie) über 40 Chaturanga Vinyasa praktiziert…. puh! das kann ganz schön anstrengend sein.

Zusammenfassung 

Vinyasa ist also ein „Schritt für Schritt“ Vorgehen. Von einer Position in die nächste. Ob nun als „Motiv“ für die gesamte Stunde, also als eigener Yoga-Stil, oder auch nur als Chaturanga Vinyasa bzw. Abwandlungen von diesem.

Was in jedem Fall nicht zu vernachlässigen ist, ist die Intention, die wir dabei verfolgen.
Und die sollte fernab davon sein, eine bestimmte (fortgeschrittene) Position zu meistern. Vielmehr können wir speziell im Vinyasa lernen den Weg selbst als das Ziel wahrzunehmen.

Judith Lasater, eine internationale Yogalehrerin, die auf jahrzehntelange Unterrichtserfahrung zurückblickt, fasste dies einmal so zusammen:

„Are we just thinking about where we wanna get or are we starting where we are…“

Eine Frage, die wir uns während des Praktizierens immer wieder mal vor Augen führen können.

Wenn der/die LehrerIn uns also bspw. auffordert „durch ein Vinyasa zu fließen“ oder wir innerhalb einer Sequenz von einer in die nächste Position wechseln, haben wir jedes Mal wieder die Möglichkeit diesen Übergang Teil der Praxis werden zu lassen.
So gilt es zuerst einmal den eigenen Atem bewusst wahrzunehmen, und dann den jeweiligen  Atemzug einsetzen zu lassen, bevor die Bewegung folgt. Der Atem wird also zur Melodie, zu der wir uns auf der Matte bewegen.

Die Bewegung selber darf/soll dann durchaus den gesamten Atemzug in Anspruch nehmen.
Dadurch wird die Praxis achtsam und vor allem – und das ist das eigentlich schöne am Vinyasa – zu einer ganzheitlichen Praxis, in der man sich jeden einzelnen Moment die Möglichkeit gibt sich „bewusst zu platzieren“, und dabei ganz nebenbei einerseits den Geist beruhigt und andererseits Verletzungen vorbeugt.

In diesem Sinne… Let’s Vinyasa!!!

Alles Liebe

Eure Alex

 

* die alten Yogi’s waren der Überzeugung, dass jedem von uns im Leben eine gewisse Anzahl von Atemzügen zur Verfügung steht. Sind diese verbraucht, ist unser Leben zu Ende. Daraus schlossen sie, dass ein langsamer Atem automatisch das Leben verlängere.

 

PS: Ich versuche in meinen Beiträgen einen Überblick über verschiedene Begriffe, Positionen sowie verschiedene Yoga-bezogene Themen zu geben. Ich erhebe dabei keinerlei Anspruch auf eine absolute Wahrheit oder Vollständigkeit!
Es kann also durchaus sein, dass jemand ein ganz anderes Verständnis von einem Thema, das ich in einem meiner Blogs behandle, hat. Ich bin der Überzeugung, dass es – speziell auch im Yoga – keine eine Wahrheit gibt (am ehesten mag es eine Annäherung an eine solche noch bei Anatomie-bezogenen Themen geben), und freue mich daher auch immer über verschiedene Meinungen und Zugänge…
Also: Schreibt mir jederzeit! Ich bin gespannt und neugierig 😊